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Rudolf Käser:
Friedrich Dürrenmatt: Texte im Spannungsfeld von Literaturtheorie und Wissenschaftsgeschichte Vortrag an der Universität Basel, 18. Mai 1999 0. Einleitende
Bemerkungen
Es macht wenig Sinn, in solchen Debatten Dürrenmatt als Naturwissenschafter
retten zu wollen, obschon er sich Literaten und anderen Künstlern
gegenüber im Zusammenhang poetologischer Debatten gerne und wohl auch
zu Recht auf seine relativ bessere Kenntnisse der modernen Naturwissenschaften
berufen hat und obschon er seine eigene literarische Position, sein poetologische
Selbstdefinition als Schriftsteller, immer wieder auch in Auseinandersetzung
mit seinem Bild der modernen Naturwissenschaften zu entwerfen versuchte.
Dessenungeachtet dürfte Dürrenmatts Beitrag zur Lösung naturwissenschaftlicher
Probleme in einem engeren Sinne in der Tat gleich Null sein, aber Dürrenmatt
hat solches nie beansprucht: "Ich bin nicht Naturwissenschafter, ich schreibe
Komödien". (7. 492)
Sinnlos wäre es auch, Dürrenmatt retten zu wollen, indem man
die Existenz des Grabens leugnet, der naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche
Kultur trennt. Zu gut war Dürrenmatt sich der Beschaffenheit dieses
Unterschiedes bewusst, zu gut kannte er das Risiko, sich im Detail zu irren.
Er hat sich in solchen Zusammenhängen darauf berufen, ein Spiel auf
dem Schachbrett der Spekulation werde nicht gestört durch Unstimmigkeiten
auf der Ebene des Tatsächlichen (7.432). Dem kann man folgen oder
nicht. Wer folgt, denkt schon geisteswissenschaftlich, auch wenn er von
Beruf Physiker wäre oder Ingenieur.
Dürrenmatt ist nicht als Naturwissenschafter zu verteidigen, sondern
als Schriftsteller zu verstehen. Aufzuzeigen ist die kulturelle Relevanz
seiner Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Auseinandersetzung:
das bedeutet ja stets eine bestimmte Mischung von ja und nein. Auseinandersetzung
heisst. Konstruktion eines Bildes des Andern, Selektion positiver Aspekte
und deren Transposition ins Eigene. Aber es heisst umgekehrt auch: Negation
von Aspekten, Konstruktion eines Gegenbildes, Abgrenzung der eigenen Position
im Kontrast. Dürrenmatts Bild der Naturwissenschaften ist ambivalent.
Es gibt Aspekte, die er bejaht und sowohl poetologisch wie literarisch
transponiert. Es gibt Aspekte, die er negativ bewertet und ablehnt, die
er vielleicht sogar überzeichnet, um im Kontrast das Eigentümlich
literarischer Weltdarstellung deutlicher herausarbeiten zu können.
Elisabeth Emter hat kürzlich in einer bahnbrechenden Studie unter
dem Titel "Literatur und Quantentheorie" gezeigt, dass Dürrenmatt
sich zwar einerseits kritisch mit den technischen Umsetzungen der modernen
Naturwissenschaften auseinandersetzt, z. B. mit der Bedrohung durch die
Atombombe und die Verführung durch den Medienspektakel um die Raumschifffahrt,
dass er sich andererseits jedoch intensiv interessiert für die theoretischen
Inhalte der modernen Physik selbst und vor allem für deren erkenntnistheoretischen
Implikationen. Emter zeigt insbesondere, wie die Aneignung der Quantentheorie
in den literaturtheoretischen und poetologischen Äusserungen Dürrenmatts
vor sich geht. Berühmte Dürrenmattsche Sätze wie z.B.: "die
Wirklichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit, die eingetreten ist" (7. 147)
wären ohne diese Auseinandersetzung mit der Quantentheorie nicht möglich
und sind ohne Kenntnis dieses Hintergrundes auch kaum verständlich.
Nach Elisabeth Emters Studie, die sich weitgehend auf die Untersuchung
theoretischer Texte literarischer Autoren beschränkt, bleiben einige
Dinge zu tun: aufzuzeigen bleibt im einzelnen die Umsetzung der angeeigneten
naturwissenschaftlichen Denkmuster und Sprachspiele in den literarischen
Texten. Und es bleibt aufzuzeigen, dass die Kritik an den Naturwissenschaften
sich nicht nur auf die technologische Anwendung bezieht, sondern wesentlich
und mit zunehmender Schärfe auch erkenntnistheoretische und forschungsmethodische
Aspekte mit einbezieht. Dürrenmatts Kritik richtet sich gegen die
systematische Ausklammerung des Subjekts aus der naturwissenschaftlichen
Experimentierpraxis und aus der mathematischen Formalisierung naturwissenschaftlichen
Wissens.
Wie diese Arbeit aussehen könnte, will ich in fünf Schritten
skizzieren, wobei in jedem Abschnitt nur exemplarische Beispiele herangezogen
werden können und Vollständigkeit in diesem Rahmen in keiner
Weise erreichbar ist.
1.
Analogie und Differenz naturwissenschaftlicher und künstlerischer
Weltdarstellung
Dürrenmatts Aneignung naturwissenschaftliche-mathematischer Denkmuster
in der Poetologie lässt sich exemplarisch am besten zeigen anhand
seiner Sätze zum Theater (1970). Dort versucht Dürrenmatt,
die Voraussetzungen seines "Meteor" zu durchleuchten. Er geht aus von Aristoteles
Bestimmung der Tragödie als einer Darstellung des Möglichen.
Was man für möglich hält, so Dürrenmatt, hänge
allerdings davon ab, was man glaube, d.h. wie man die Wirklichkeit interpretiere.
Das Mögliche sei für Sophokles ein anderes als für Calderon.
Daraus folgert Dürrenmatt, der Dramatik des Möglichen "hafte
ein subjektives Element an" (7. 137). Heute würden wir Schüler
Foucaults an dieser Stelle wohl nicht mehr von Subjektivität reden,
sondern von Episteme oder von der Historizität der Diskurse. Der Unterschied
ist signifikant, wie sich noch zeigen wird. Dürrenmatt hält am
Subjekt fest. Er zeigt dann, wie im Laufe der Neuzeit und wesentlich im
19. Jahrhundert zur Zähmung der Subjektivität auch im Drama nur
noch das als Möglich gilt, was den Naturgesetzen entspricht. Möglich
sei, was nach Naturgesetzen geschehen könnte. Dies führe zum
Determinismus im Drama, zur möglichst vollständigen Motivierung
der Handlungssequenzen. Determinismus neigt aber zur Übertragung vom
Kausalmechanischen ins Moralische: Schuld ziehe Sühne nach sich usw.
Die Abfolge der Handlung suggeriere damit die Notwendigkeit dieser Abfolge,
und zwar eine kausale und wie moralische Notwendigkeit. Damit wird die
Syntax zum Träger der Botschaft, und zwar zum Träger einer Botschaft,
die nicht stimmt. Es seien neue Denkwerkzeuge nötig, um aus dieser
Sackgasse herauszukommen. Statt im Gefolge der newtonschen Mechanik und
eines deterministischen, kausalmechanischen Weltbildes von Möglichkeit
und Unmöglichkeit zu sprechen, sei es an der Zeit, in Analogie zum
Indeterminismus der Thermodynamik und der Quantenphysik in den statistischen
Kategorien der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit zu denken. Im
Meteor versuche er, darzustellen, was wahrscheinlicherweise geschähe,
wenn das Unwahrscheinliche einträfe. Ein Mensch, der unwahrscheinlicherweise
vom Tode auferstünde, was er selber für unmöglich hält,
würde in die Wirklichkeit wahrscheinlich mit zerstörender Gewalt
einschlagen wie ein Meteor, denn niemand vermöchte einem immer wieder
Sterbenden und Auferstehenden irgendwelchen nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen.
Durch diese Fiktion gelange das Drama zu einer wahrscheinlichen Darstellung
des Todestriebes, und zwar auf dem Weg der Hypothesenbildung, der den theoriebildenden
Verfahren der Naturwissenschaften nicht unähnlich sei. Dieser Konzeption
der hypothesenbildenden Naturwissenschaften liegt Karl Poppers Logik
der Forschung zugrunde. Auch die Naturwissenschaft, namentlich die
moderne Quantentheorie, leitet nach Popper ihre Aussagen nicht induktiv
aus der Beobachtung ab, sondern deduktiv aus hypothetischen Theorien, die
den Charakter von logisch kohärent formulierten Einfällen habe,
deren Wahrheit jedoch nie letztgültig erwiesen werden könne,
mit denen man jedoch arbeite, solange sie brauchbare Resultate liefern
und den Falsifikationstests standhalten.
Soweit die Analogie von Literaturtheorie und Wissenschaftstheorie bei
Dürrenmatt. Soweit auch ein freies Referat der Untersuchungsergebnisse
von Elisabeth Emter. Nun gibt es in den "Sätzen über das Theater"
jedoch nicht nur die Aneignung naturwissenschaftliche geprägter Denkmuster,
sondern auch eine deutliche Abgrenzung der unterschiedlichen Darstellungsweisen
von Physik und Literatur.
Die Antworten, welche die Physik erhält, mögen
richtig sein, aber sie sind nicht deutbar ausserhalb des Sprachspiels der
Physik. Dürrenmatt beschreibt die Physik als ein in sich geschlossenes
System. Kunst hat demgegenüber eine Relation zur allgemeinen Erfahrung,
Kunst ist ein offenes Sprachspiel. Das nur physikalisch relevante Wissen
der Physik ist standpunktfrei, während die Empirie der Literatur den
Standpunkt des Betrachters ausdrücklich einschliesst. Von dieser Standpunkthaftigkeit
wird später noch zu reden sein.
Die Parallelität der Gedankenführung hat
in diesem Text den Zweck der Abgrenzung. Der Durchgang durch die Wissenschaftstheorie
führt zu einer verschärften Fassung der Poetologie. Diese abgrenzende
Strategie verschärft sich im Spätwerk, namentlich im Text "Kabbala
der Physik". Dort wird das Verhältnis von Physik und Kunst wie folgt
bestimmt:
Ich bin der Meinung, dass Dürrenmatts Aneignung
naturwissenschaftlicher Denkmuster und Sprachspiele in den literarischen
Texten erst den richtigen Hintergrund erhalten, wenn man auch die scharfe
poetologische Abgrenzung der Kunst von der Physik zur Kenntnis nimmt und
gelten lässt. Elisabeth Emter hat gute Gründen, diese Abgrenzung
nicht betont, ging es doch erst einmal darum, überhaupt das Faktum
der produktiven Rezeption in den Blick zu bekommen
Ich komme nun zum zweiten Punkt meiner Problemskizze.
Nachdem Elisabeth Emter Dürrenmatts positive Rezeption der Quantenphysik
anhand poetologischer Aussagen nachgewiesen hat, wäre nun in einem
weiteren Kapitel der Dürrenmattforschung zu sprechen von der Transposition
naturwissenschaftlicher Denkmuster in den literarischen Texten.
Zu sprechen wäre in diesem Zusammenhang, aufgezählt
im Gegensinn der Werkgenese, zum Beispiel von der kosmologischen Metaphorologie,
die Dürrenmatt in den Stoffen zur Bestimmung des Erinnerns und damit
zur Bestimmung des schreibenden Subjekt der Stoffe selbst einführt.
Zu sprechen wäre in diesem Zusammenhang von dem kniffligen methodologischen
Problem, wie der werkimmanente Zeitbegriffs ins Verhältnis zu setzen
sei zur philologischen Rekonstruktion einer Chronologie der Textgenese.
Einige Überlegungen zu dieser Thematik sind in der Zürcher Antrittsvorlesung
zu finden.
Weiter wäre zu sprechen von der Transposition
des quantenmechanischen Beobachtungsproblems in der Erzählung "Der
Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter". Der Bezug
zu Frage "Quis custodiet ipsos custodes? Wer wird die Beobachter beobachten?",
mit der Eddington das zentrale erkenntnistheoretische Kapitel seiner "Philosophie
der Naturwissenschaft" einleitet, wäre zu explizieren. Die Quantenphysik
lehrt, dass ein "reines" Beobachten nicht möglich ist, dass jeder
Beobachter mit dem beobachteten System interagiert und es dadurch verändert.
Polyphem, der ins Mythische gesteigerte Kriegsberichterstatter in Dürrenmatts
Erzählung, will aber genau das sein: ein reiner Beobachter. Dieses
Ziel ist im Hinblick auf die quantenphysikalischen Gedankengänge,
als "contra naturam" zu verstehen. Das manifestiert sich in seinem gestörten
Verhältnis zur Zeit, in seinem gestörten Verhältnis zum
Darstellungsmedium Film und schliesslich in seinem verzweifelten Selbstmord.
Demgegenüber gibt die Protagonistin der Erzählung in einem entscheidenden
Moment jegliche Distanz auf: sie wird gezwungen, wie ein Tier zu kämpfen
– und sie hat Glück, was zwar unwahrscheinlich ist, aber nicht unmöglich
und jedenfalls ein Novum in Dürrenmatts Werk.
Ausführlich wäre zu handeln von Dürrenmatts
wiederholten Anstrengungen, am Leitfaden des naturwissenschaftlichen "Gesetzes
der grossen Zahl" eine politische Theorie zu entwickeln, die nicht kapitalistisch
und nicht marxistisch wäre und die doch den Primat der Gerechtigkeit
über die Freiheit begründen könnte. Und es wäre im
gleichen Atemzug zu berichten von der expliziten Zurücknahme dieser
Versuche in der Erzählung "Winterkrieg im Tibet". Die These lautet:
Dürrenmatts politische Haltung ist ohne seine Auseinandersetzung mit
dem thermodynamischen und quantenmechanischen Gesetz der grossen Zahl nicht
zu verstehen.
Abzuhandeln wäre das radikale literarische Experiment,
ausgerechnet im Ödipus-Stoff, der Schicksalstragödie schlechthin,
das Konzept Schicksal durch das Konzept Zufall zu ersetzen. Diese Experiment
– angesetzt im Text-Synchrotron des Mitmacher-Komplexes - mündet literarisch
triumphal in die Erzählung "Das Sterben der Pythia" und damit in die
Wiedergeburt des Prosaautors Dürrenmatt aus dem Debakel des Theaterschriftstellers.
Von alledem kann ich hier aus Zeitgründen nicht
ausführlicher sprechen. Darstellen will ich jetzt nur die Umsetzungen
des thermodynamischen und quantenmechanischen Zufallsbegriffs in Dürrenmatts
Kriminalroman Das Versprechen, dessen Untertitel "Ein Requiem
auf den Kriminalroman" bereits die Distanz zum hergebrachten Gattungsmuster
benennt.
Dürrenmatts Auseinandersetzung mit modernen
Wissenschaftstheorien, namentlich mit Erschütterung des kausalmechanischen
Determinismus durch die Thermodynamik der Gase und die Quantentheorie,
ermöglicht die Analyse und die kreative Umgestaltung wesentlicher
Voraussetzungen des klassischen Kriminalromans. Namentlich geht es um die
seit Sherlock Holmes geprägte Siegerrolle des mit naturwissenschaftlichen
Methoden investigierenden Detektivs, und es geht um die Rolle von Kommissar
Zufall, der in Dürrenmatts Version, dem genialen Detektiv nicht mehr,
wie sonst üblich, zu Hilfe kommt, sondern ihm, dem Wissenschaftsgläubigen,
einen Knebel zwischen die Beine wirft, über den er existentiell strauchelt.
In einem poetologischen Gespräch zwischen eine Polizeihauptmann und
einem Schriftsteller kritisiert der Praktiker die weltfremde Art, wie Literaten
die Syntax der Handlungskette konzipieren, und er erzählt die Geschichte
von Kommissar Matthäi als ein realistischeres Gegenstück.
Kommissar Matthäi ist ein genialer Kriminologe,
bewandert in der wissenschaftlichen Erstellung von Täterprofilen.
Aufgrund seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ihn zur Prognose befähigen,
stellt er einem Wiederholungstäter, einem Serienmörder eine Falle.
Und er behält wissenschaftlich recht, nur praktisch nicht. Wenige
Kilometer vom künftigen Tatort entfernt, wo eine weiteres Opfer, bewacht
von einem großen Polizeiaufgebot, auf ihn wartet, kommt der Mörder
unerkannt bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Matthäi wartet weiter
auf die Bestätigung seiner Theorie, ein Leben lang. Er glaubt an die
Wissenschaft und scheitert an einem läppischen Zufall. Wissenschaftliche
Aussagen stimmen im Allgemeinen, d.h. sie stimmen statistisch, für
die große Zahl von Fällen, aber zuverlässige Prognosen
über den Einzelfall sind nicht möglich. Zu dieser Einsicht in
die statistische Geltung von Naturgesetzen und die Indeterminierbarkeit
des Einzelfalls gelangt man in Auseinandersetzung mit der Thermodynamik,
namentlich mit der kinetischen Gastheorie. Das Verhältnis von Druck
und Temperatur läßt sich für die Gesamtheit einer großen
Menge von Gasmolekülen genau berechnen. Doch Prognosen über das
Verhalten eines einzelnen Moleküls sind nicht möglich. Radikalisiert
wurde der Indeterminismus durch die Quantenmechanik. Halbwertszeiten radioaktiver
Stoffe lassen sich bestimmen. Eine Aussage darüber, wann genau ein
einzelner Atomkern zerfällt, ist nicht möglich. Impuls und Ort
eines Photons lassen sich nicht gleichzeitig vollständig bestimmen.
Dürrenmatt hat diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ins Literarische
transponiert, indem er die Problematik des Zufalls im tradierten Erzählmuster
des Kriminalromans durchdachte und neu konzipierte und er hat die literarische
Problematisierung der Wissenschaften um eine Fragestellung bereichert.
Wie geht ein Wissenschaftler um mit der Diskrepanz von Berechenbarkeit
und Zufall? Matthäi glaubt offenbar an die deterministische Gültigkeit
der Wissenschaft, und er scheitert daran. Wie er zu diesem Glauben kommt,
das mag nun die psychologische Dimension des Romans ausmachen. Unter wissenschaftstheoretischen
Gesichtspunkten jedenfalls lässt sich sagen, dass dieser Glaube nicht
vernünftig ist, und es lässt sich zeigen, dass der Klassische
Kriminalroman in der Tendenz eher bestrebt ist, diesen unvernünftigen
Glauben an die Beherrschbarkeit und Prognostizierbarkeit der Welt zu verstärken.
In der klassischen Form ist der Kriminalroman unter wissenschaftstheoretischen
Gesichtspunkten nicht mehr zeitgemäß.
3.
Kritik an der methodischen Ausklammerung des Subjekts aus der naturwissenschaftlichen
Forschungspraxis
Dürrenmatt glaubt gerade aufgrund seiner Auseinandersetzung
mit dem Zufallsbegriff und der Indeterminiertheit der Natur selbstverständlich
nicht an die logozentrische Allmachtposition des Bewußtseins. Trotzdem
läßt sich diese Dezentrierung des Subjekts nicht mit dem Ende
des Subjekts gleichsetzen, wie es im Poststrukturalismus verstanden und
bejaht wird. Dürrenmatts Subjekt ist ein inkorporiertes und insofern
endliches Ich, das als Wahrnehmungszentrum einer zwar nur hypothetisch
fassbaren, aber doch erlebbaren Welt irreduzibel bleibt. Diese konstitutive
Subjektfunktion wird in Dürrenmatts Sicht am radikalsten von den neueren
Entwicklungen der Naturwissenschaft bedroht. Dürrenmatt illustriert
diese methodischen Ausschluß des inkorporierten, wahrnehmenden und
weltdeutenden Subjekts aus den Verfahrensweisen der Naturwissenschaften
anhand seines enttäuschenden Besuches im Observatorium auf Mount Palomar,
wo das seinerzeit grösste Teleskop steht und von wo aus Zwicky den
Weltraum nach den Supernovae zu durchforschen begann. Dürrenmatt besucht
dieses Observatorium im Jahr 1981. Er spricht davon in einem Interview
mit Kreuzer im Jahr 1982 und analysiert die Schockerfahrung vertieft im
Jahr 1984 in seinem Frankfurter Vortrag "Kunst und Wissenschaft".
Zum Verlust der Anschaulichkeit tritt ein zweites
Schockerlebnis. Dürrenmatt befragt den auf Mount Palomar tätigen
Astronomen über ein jüngst durch Radioteleskope entdeckte Milchstraße,
die weit größer sei als die unsere. "Keine Ahnung, sagte er,
er beschäftige sich nur mit Seyfert-Galaxien." Der forschende Spezialisten
interessiert sich nicht mehr für das Ganze, ihn beschäftigt ein
wohldefinierten Details, das Verständnis für die anthropomorphe
Dramatik der Größe hat er sich abgewöhnt. Dürrenmatt
verläßt den Raum, ich denke, fluchtartig: "draußen frage
ich nach dem Archiv. Tausende von Aufnahmen, darunter die berühmte
erste Supernova, die Zwicky in einer fernen Milchstraße fotografiert
hatte." Hier findet sich Dürrenmatt wieder zurecht. Er zieht sich
zurück zu den Bildern des analogen Zeitalters, die Digitalisierung
der Daten schließt sein Anschauungsbedürfnis aus.
Die systematische, immer radikaler fortschreitende
Ausklammerung des menschlichen Körpers aus den Methoden der Naturwissenschaft
hat der Wissenschaftshistoriker Werner Kutschmann in seinem Buch Der
Naturwissenschafter und sein Körper untersucht und anhand der
Experimentierpraxis Girolamo Cardanos, Johann Kepplers und Isaac Newtons
als fortschreitende Desanthropomorphisierung beschrieben. Eine Drehpunktfunktion
in diesem Prozeß kommt Galileo Galilei zu. Dieser hatte bei seinen
Experimenten zum freien Fall Probleme mit der Zeitmessung. Puls und Wasseruhren
waren stets abhängig von der Reaktionsweise des menschlichen Körpers.
Schließlich gelang es ihm, den Faktor Zeit aus seinen Berechnungen
auszuschließen, indem er die auf schiefer Ebenen rollenden Kugeln
über eine Schanze springen ließ und dadurch die Beschleunigung
berechnen konnte aus dem Verhältnis von Fallhöhe und Sprungweite,
ohne die Fallzeit überhaupt messen zu müssen.
Sinnenfälllig zu illustrieren ist diese Ausklammerung
des wahrnehmenden Subjekts auch in der bildenden Kunst anhand von Dürers
Lehrbuch des perspektivischen Zeichnens. Zunächst erfordert die perspektivische
Methode eine Distanzierung von Künstler und Gegenstand sowie eine
Disziplinierung des menschlichen Auges und damit des menschlichen Körpers.
Angesichts dieser Austreibung des Körpers aus
den Naturwissenschaften ergibt sich für das Spätwerk Dürrenmatts
folgende Problemlage: Wie läßt sich künstlerisch über
Naturwissenschaften und ihr Weltbild schreiben und reden, wenn das Subjekt
aus der Naturwissenschaft methodisch immer vollständiger ausgeklammert
wird? Dazu entwickelt Dürrenmatt in seinem Spätwerk eine doppelte
Strategie: Erstens unternimmt er eine Erkenntnis- und sprachkritische Relativierung
der physikalisch-mathematischen Theoriebildung der Physik. Zweitens radikalisiert
er die Poetologie einer nicht-nachahmenden Kunst. Er setzt die Gegenwelt-Entwürfe
der Literatur erkenntnistheoretische in Parallele zu den physikalischen
Weltbildern und beharrt nachdrücklich auf ihrer Eigenständigkeit.
Dürrenmatt beschliesst den zweiten Band seiner
Stoffe mit einem naturphilosophischen Panorama-Text unter dem Titel:
Das Hirn. In expliziter Gegenbildlichkeit zum bekanntesten heutige
Welt-Entstehungsmodell der naturwissenschaftlichen Kosmologie, zur Urknall-Theorie,
setzt Dürrenmatt an den Anfang seiner literarischen Seinsgeschichte
ein Hirn, das schrittweise Musik und Mathematik, dann die Evolution der
Natur und die Menscheitsgeschichte aus sich heraus entwickelt, um schliesslich
beim Schreiben jenes Textes anzulangen, den wir lesen, beim Hirn eines
"zuckerkranken Gottes ohne Bart", eines "metaphysischen Mumpitz-Gottes",
der sich schreibend unsere Welt zusammenträumt.
Die Bezüge zur Kosmologie der theoretischen
Physik und zur Evoltionsbiologie sind offensichtlich. Computermythen sind
allgegenwärtig. Dürrenmatt erweist sich auch hier als informierter
Leser und Umsetzer moderner naturwissenschaftlicher Texte, wobei die konkreten
intertextuellen Bezüge im einzelnen noch kaum erschlossen sind. Das
ist hier auch nicht in Kürze zu leisten. Doch sollte die Fülle
dieser Bezüge den Blick nicht trüben für die Architektur
des Textes insgesamt. Entscheidend für Mähne Interpretation ist
nicht das Gestöber der Motive im einzelnen, sondern der Blick auf
die integrierende Grossstruktur und auf deren ironische Wendung am Schluss,
musikalisch gesprochen: ich versuche keine Analyse des thematischen Materials,
sondern möchte die grosse Form der Komposition in den Blick nehmen.
Diese Grossstruktur ist nun keineswegs den modernen Naturwissenschaften
entliehen, strukturbestimmend für den Aufbau des Textes ist vielmehr
ein naturphilosophisches Denkmuster, wie es uns im deutschen Idealismus
und namentlich im Hegelschen System entgegentritt. Dürrenmatts Text
erscheint ist ein Palimpsest im Sinne Gérard Genettes. Die Grossstruktur
des Textes ist ein intertextuelles Strukturzitat oder, um in Genettes Terminologie
zu sprechen, ein Hypertext, dessen Hypotext allerdings nicht explizit benannt
wird und der dennoch besser lesbar wird, wenn man ihn als Parodie, oder
präziser als (ernst gemeinte) Transposition des zugrundeliegenden
Modells erkennt.
Dürrenmatts Text "Das Hirn" verläuft in
fünf deutlich abgrenzbaren Phasen. In der ersten Phase ist das Hirn
zwar tätig, aber noch ohne Inhalt, ohne Bewusstsein und ohne Sprache.
Es ist ein Mega- Chip unter elektrischer Spannung, der seine Möglichkeiten
noch nicht kennt, ja dessen Möglichkeiten noch nicht erprobt sind.
Aus dem Rauschen der Ionen in den Nervenzellen lässt Dürremnatt
zunächst einen Takt entstehen, das binäre Wechseln von Spannung
und Nullspannung. Diese wiederholte An- und Abschalten erzeugt nach Dürrenmatt
eine Grundangst, die durch den kontinuierlichen Prozess des Zählens
überwunden wird. Aus dem Zählen folgt ein Rhythmus, eine musikalische
Komposition und schliesslich die Mathematik. Musik und Mathematik sind
also bei Dürrenmatt schon da, bevor es eine Welt gibt und bevor Ichbewusstsein
entsteht. Diese erste Phase der Weltevolution aus dem Hirn entspricht,
so meine These, dem Hegelschen An-sich-sein des Geistes, den Gedanken Gottes
vor der Schöpfung. In Hegels Darstellung füllen diese Gedanken
Gottes vor der Schöpfung die zwei Bände der Logik, hier bei Dürrenmatt,
ist diese Anfangsphase computertmythologisch binarisiert, kierkegaardisch
psychologisiert und schopenhauerisch musikalisiert worden. Dürrenmatts
Hirn funktioniert zuerst als musikalischer Synthesizer, bevor es zur Rechenmaschine
wird.
Diese Rechenmaschine tritt nun, hegelsch gesprochen,
in die Phase des Fürsichsein, des objektiven Geistes, indem sie das
Konzept der Materie erdenkt, den Urknall produziert, den Kosmos entstehen
lässt und dann, nach vielen Versuchen, die unwahrscheinlichste aller
Möglichkeiten weiterspielt, das biologische Leben auf dem Planeten
Erde. Es wird die Urzelle generiert, aus ihr entwickelt sich stufenweise
die belebte Natur.
Auf einer hohen Stufe der Komplexität generiert
das Leben ein Ichbewusstsein, womit die dritte Phase des Ablaufs eingeleitet
wird, nach Hegel die Phase des Anundfürsichseins. Erst zusammen mit
dem Ichbewusstsein bilden sich bei Dürremnatt die Hegelschen Anfangskategorien
des Seins und des Nichtseins, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, denn
die erste wissenschaftliche Erkenntnis des bewussten Ich ist nach Dürremnatt
der Tod.
Nun tritt auch bei Dürremnatt, wie das bei Hegel
der Fall ist, das Bewusstsein in den Kampf um Anerkennung, wenn es auf
Seinesgleichen trifft, auf ein anderes Selbstbewusstsein. Damit beginnt
die Geschichte der Menschheit. Hier nun findet sich der einzige explizite
Bezug auf Hegel in Dürrenmatts Text, allerdings mit einer signifikant
parodistischen Veränderung. Die Vergesellschaftung des Geistes wird
nicht aus dem Konflikt von Herr und Knecht entwickelt, sondern – mit verdeckter
Referenz an Bachofens Mutterrecht und den Feminismus - als Kampf zwischen
Knecht und Herrin konzipiert. Aufbau und Ende des Matriarchats nehmen in
Dürrenmatts Weltentwurf bereiten Raum ein.
Bei Hegel kulminiert die Entwicklung des Denkens
schliesslich in der Hegelschen Philosophie selber. Der Geist tritt ein
die Sphäre der Idee. Auch diese selbstreflexive Wendung wird bei Dürrenmatt
in der vierten Phase des Textes wiederholt, indem das Welthirn sich am
Ende jenes Hirn eines zuckerkranken Schriftstgellergottes ohne Bart ausdenkt,
welcher den Text schreibt, den wir lesen, oder vielmehr: welches diesen
Text aus kulturellem Treibgut zusammenbastelt, welches die Brandung der
Zeit an den Strand seines Schreibtisches spült.
Diese Strukturanalogien rechtfertigen es, den Text
"Das Hirn" als eine Transposition des objektiven Idealismus Hegels anzusprechen.
Allerdings ist das parodierende Transponieren bei Dürenmatt nie eine
harmlose Strategie. Dürrenmatts Transpositionen verwandeln jede tragische
Vorlage in eine Komödie. Dürrenmatts Komödienbegriff ist
bekanntlich vom Konzept der schlimmstmöglichen Wendung bestimmt. Diese
wird durch den Zufall herbeigeführt. Je planvoller das Bewusstsein
vorgeht, umso katastrophaler wird es vom Zufall getroffen. Dies gilt auch
hier. Auch hier, in diesem späten Prosatext, erscheint die schlimmstmögliche
Wendung als Manifestation des absoluten Zufalls, der nun aber nicht mehr,
wie bei Hegel noch, leicht zu parieren.
Hegel pflegte einen souveränen Umgang mit dem
Zufälligen. Es kommt zwar vor, auch im Prozess der Selbstentwicklung
des absoluten Geistes, aber das Zufällige ist für Hegel eine
vernachlässigbare Gösse. Es gibt diesbezüglich eine bekannte
Anekdote: als ein Student behaupten wollte, es gebe in Brasilianischen
Regenwald eine Pflanze, die der systematischen Definition der Pflanze in
einem bestimmten Kapitel der Enzyklopädie widerspreche, gab Hegel
ihm die Antwort: um so schlimmer für die Pflanze. Das war Hegels Umgang
mit dem Zufälligen.
Bei Dürrenmatt erscheint nun das absolut Zufällige,
das Undenkbare am Ende des Textes, als jener Ort, den man nicht ausdenken
kann und der in keinen philosophischen Sinnentwurf integrierbar ist. Man
kann diesen Ort besuchen, Dürrenmatt hat ihn aufgesucht, er berichtet
davon in einfachen Sätzen, die beladen sind mit bleischwerer, undurchdringlicher
Trauer: Auschwitz und Birkenau erscheinen am Ende der Dürrenmattschen
Parodie des idealistisch verstandenen Werdens als das schlechthin Sinnlose,
Unausdenkbare.
Diese Transmodalisierung des konstruktiv-spekulativen
Schreiben ins autobiographische Erzählen entzieht Dürrenmatts
Text den Aneignungsversuchen postmoderner Provenienz. Dies soll abschliessend
in Auseinandersetzung mit der Dürrenmatt-Interpretation von Müller-Farguel
dargelegt werden. Bei Dürrenmatt stehe am Ende "das Souveräne
Gelächter des Grossen Alten über dem Chaos abgründiger Skepsis",
behauptet Müller-Farguell jüngst in seinem Aufsatz zur Kierkegaard-Rezeption
Dürrenmatts. Dürrenmatt hat in der Tat gesagt: "Wenn man schreibt,
ist man immer der Grosse Alte," und er hat dabei gelacht. Das ist schon
richtig. Doch man schreibt nicht immer! Manchmal steht man auf, verlässt
den Schreibtisch, diesen Strand beliebig verfügbaren Kulturguts, und
man unternimmt eine überfällige Reise, eine reise des Eingedenkens.
Solche Erfahrungen erzwingen ein anderes Schreiben, ein letztlich autobiographisches
Erzählen. Auch diese Schlusswendung gibt es bei Dürrenmatt, diesen
schlichten Verweis auf den eigenen Körper und seinen Ort. Von Gelächter
hier keine Spur. Bei Müller Farguell kein Wort über dieses andere
Ende.
Der schlichte Bericht des Besuches von Auschwitz
und Birkenau verlässt die dekonstruktiven Endlosschlaufen der Denkbarkeit
und der Dekonstruierbakeit und lässt auch das Lachen der Komödie
hinter sich zurück: "Es gibt Orte, wo Kunst nichts zu suchen hat."
Gewiss: dies Satz steht als Satz in einem kunstvoll komponierten Text in
paradoxem Verhältnis zu seinem Kontext. Doch dramaturgisch, als Inszenierung
des Eingedenkens, ist dieses logische Paradox ästhetisch zu lösen.
Es braucht die Sprache, um das Verstummen hörbar zu machen. Aus dem
Durchgang durch das Schweigen entspringt das verkörperte Erzählen
und damit die Zeugenschaft der Kunst.
Verwendete Literatur:
Dürrenmatt, Friedrich: Gespräche 1961-1990 in vier Bänden.
Zürich: Diogenes, 1996.
Eddington, Arthur Stanley: Die Philosophie der Naturwissenschaft.
Bern: Franke, 1949.
Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der
modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger
Autoren 1925 – 1970. Berlin, New York: de Gruyter, 1995.
Florence, Ronald. The perfect machine: building the Palomar Telescope.
New York: Harper and Collins, 1994.
Genette, Gérard: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe.
Frankfurt: suhrkamp, 1993.
Kutschmann, Werner: Der Naturwissenschafter und sein Körper.
Die Rolle der `inneren´ Natur in der experimentellen Naturwissenschaft
der frühen Neuzeit. Frankfurt: suhrkamp, 1986.
Marshal, Ian and Zohar, Dana: Who´s Afraid of Schrödingers
Cat? London: Bloomsbury, 1997.
Müller Farguell, Roger W.: "Zur Dramaturgie aporetischen Denkens.
Dürrenmatt und Kierkegaard." In: Neue Perspektiven zur deutschsprachigen
Literatur der Schweiz. Hrsg. v. R. Sabalius. Amsterdam, Atlanta: Rodopi,
1997. 153-165.
Simonyi, Karl. Kulturgeschichte der Physik. Aus dem Ungarischen von
Klara Christoph. Wiss. Red. der dt. Fassung Martin Franke. Thun: Deutsch,
1990.
Weber, Ulrich u.a. (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller
und Maler. Bern u. Zürich: SLA und Kunsthaus Zürich, 1994. |