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„Der grosse Beobachter fühlte seinen Puls...“ Albrecht von Haller im Spätwerk Friedrich Dürrenmatts. Albrecht von Haller, der Schweizer Arzt, Physiologe und Dichter des 18. Jahrhunderts, wird im Werk Friedrich Dürrenmatts meines Wissens ein einziges Mal erwähnt, und zwar am Schluss der Rede zur Verleihung des Schiller - Gedächtnispreises des Landes Baden-Württemberg im Jahr 1986. Die Situation entbehrt nicht ganz der Ironie, wurde Friedrich Dürrenmatt doch damals noch einmal als Dramatiker gefeiert, obschon er seit dem Misserfolg seiner „Mitmacher“ im Jahr 1973 unablässig daran war, sich vom Theater zu verabschieden und seine Metamorphose zum Essayisten und Erzähler ins Werk zu setzen. Mit einiger Bissigkeit bemerkt er in seiner Dankesrede denn auch, im Entgegennehmen von Schillerpreisen sei er geübt, dies hier sei sein dritter, und ein vierter sei nicht zu befürchten. Dürrenmatt reflektiert in dieser Rede seinen Abschied vom Theater noch einmal. Er bezieht sich auf Schillers Abhandlung über das Theater als moralische Anstalt und begründet durch eine mediensoziologisch ausgerichtete Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit, warum dieses Schillersche Projekt heute nicht mehr realisierbar sei. Konnte der bürgerliche Theaterautor damals vermittels der Bühne einen Wertediskurs zwischen Bürger und Machthaber institutionalisieren, sei dies durch die Erfindung und Verbreitung der elektronischen Massenmedien heute unmöglich geworden: „dank des Rundfunks und des Fernsehens ziehen die Politiker in die Wohnstuben ein, mimen Landesväter und Volksvertreter, entfachen Gefühle und Mitgefühle, Emotionen, Feindbilder“. Durch die elektronischen Medien wird die Privatsphäre und die politische Sphäre kurzgeschlossen. Indem das Politische sich selbst theatralisiert und indem dieses Theater zweiter Potenz in den elektronischen Massenmedien sich den Schein der Unmittelbarkeit zulegt, wird Kultur im Sinne Schillers zunehmende marginalisiert, wird der Bühnenautor als Vermittler öffentlicher, politisch relevanter Diskurses überflüssig: „Schreiben wird zur privaten Angelegenheit.“ (S. 397). Die Frage: „warum er denn, wenn er schon sein Schreiben für sinnlos halte, weiterhin, wenn vielleicht auch nicht mehr Komödien, so doch Prosa schreibe“, beantwortet Dürrenmatt nun mit dem Hinweis auf den Arzt und Naturwissenschafter Haller. Er zitiert die bekannten letzten Worte des sterbenden Haller, wie sie vom Berner Pfarrer Wyttenbach verbreitet wurden: „man ließ mich am Tage seines Todes dringend zu ihm bitten. Ich war aber auf dem Lande, als ich späth in die Stadt kam, ging ich eilend hin, fand ihn aber seit einer ¼ Stunde tod. Herr Pfarrer Hopf war bey seinem Tode gegenwärtig. Der grosse Beobachter fühlte seinen Puls, und im entscheidenden Puncte sprach er: Mein Gott, ich sterbe, und starb.“ Dazu bemerkt Dürrenmatt: „Der sich den Puls fühlende sterbende Haller ist mir ein Sinnbild für mein Schreiben geworden [...] Lebe ich doch, wenn ich meinen Puls fühle, und erreiche unwillkürlich durch einen nie voraussehbaren Zufall einige, indem ich sie nachdenklich stimme oder, was mich auch etwas freut, ärgere. Es ist die Zeit, in der wir leben, unsere Zeit, fühle ich meinen Puls. Auch beim Schreiben, ich habe es versucht, es geht, ich schreibe mit Bleistift.“ Im Schweizerischen Literaturarchiv können späte Bleistiftmanuskripte Dürrenmatts eingesehen werden. Blockbuchstaben, Zeichen um Zeichen, Zeile um Zeile sorgfältig hingesetzt, legen sie Zeugnis ab von Dürrenmatts schriftstellerischer Sorgfalt. Was auffällt: die Striche erzittern in feinsten Wellenlinien unterschiedlicher Amplitude. Sind dies die Seismogramme des lebendigen Pulses, der sich schreibend selber fühlt? Oder sollten wir – gleichsam als literaturkritische Dr. Katzenberger - das Zittern der schreibenden Hand neurologisch genauer nehmen? Die Hand zittert nicht wegen des Pulses, ein Tremor hat andere Gründe. Es könnte sich hier schon die Kluft öffnen zwischen literarischer Symbolik und medizinischer Diagnostik. Aber man kann auch versuchen, die beiden Aspekte nach der Spaltung wieder zu verbinden, denn das Fühlen des eigenen Pulses ist zugleich ein Bild für eine Geste körperbezogener Konzentration, das Fühlen des Pulses ist ein Führen der zitternden Hand, so dass Schrift möglich wird und bleibt. Körperbezogenheit ist ein Leitmotiv meiner Dürrenmatt-Lektüre. Den späten Bezug Dürrenmatts auf Haller möchte ich hier jedoch weder isoliert bestaunen noch isoliert dekonstruieren, ich möchte ihn vielmehr in Zusammenhang setzen mit der gesamten vielschichtigen Auseinadersetzung Dürrenmatts mit den Naturwissenschaften. Präziser als dies bisher geschah, sind unterschiedliche Phasen dieser aneignenden Auseinandersetzung zu erfassen. Perspektiven, Methoden und Schwerpunkte wandeln sich im Laufe der Zeit. Dem möchte ich nachgehen, dazu habe ich heute einen Parcours vorbereitet mit folgenden sechs Sationen: Station 1: Die Physiker. Die Auseinandersetzung Dürrenmatts mit den Naturwissenschaften ist auf der Stufe der „Physiker“ konstruiert als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer subjektiven Verantwortung des einzelnen Naturwissenschafters für die Folgen seiner Erkenntnis. Diese Frage wird in eine Aporie geführt. Die individualethische Entscheidung des Physikers Möbius z. B. löst keine Probleme, die im gesellschaftlichen Gesamtsystem angelegt sind. Und wenn ein Einzelner trotzdem versucht, eine Lösung zu finden, wird seine Intention vom System nicht nur vereitelt, sondern geradezu pervertiert. Der ethische Mensch wird zum Mörder - und aufgrund der Vergeblichkeit seines Heroismus zur tragikomischen Figur. Nun ist dieser systemkritische Hintergrund in Dürrenmatts Drama selbst nicht ohne weiteres zu erschliessen. Die Unhintergehbarkeit des Systemzusammenhangs wird nach den Regeln des Komödienspiels personalisiert und erscheint in der Figur der Frau Doktor Zahn, welche jedoch, gerade weil sie grotesk erscheint, nicht als die Allegorie eines unausweichlichen Systemzwangs ernst genommen wurde. Dürrenmatt versucht, die Problemstellung, die das Stück antreibt, nachträglich in den „21 Punkten zu den Physikern“ zu formulieren. Diese Thesen wurden zum wohl meistzitierten Text Dürrenmatts, trotzdem sind sie ein Indiz des Scheiterns. Offenbar konnte schon hier nicht auf der Bühne gezeigt werden, was eigentlich gezeigt werden sollte, für Dürrenmatt ein zunehmend virulentes Problem. In einem Gespräch formuliert er es einmal so. „Es ist ein System zu zeigen; nun zeigen Sie mal ein System auf der Bühne.“ Dramaturgisch auf die Spitze getrieben und dann radikal poetologisch durchdacht wird diese Problematik im Mitmacher-Komplex. Station 2: Der Mitmacher-Komplex. Die Handlung des Dramas „Die Mitmacher“ modelliert auf der Bühne einen gesellschaftlichen Vorgang, den man als rasant sich beschleunigende Verschmelzung staatlicher Institutionen mit mafiaähnlichen Organisationen beschreiben könnte. Dieser Verschmelzungsprozess beschädigt die Sprache als Medium intersubjektiver Verständigung. Wenn der Systemwandel die Verhältnisse zwischen den Einzelsubjekten so verändert, dass jede und jeder guten Grund hat, in allen Akten der Kommunikation auf der Lauer zu liegen, jedes Gespräch so rasch wie möglich in die Sphäre nichtssagender und unverbindlicher Gemeinplätze umzubiegen aus Angst, ein informatives Wort könnte gegen ihn verwendet werden, beschädigt dies das Subjekt im innersten. Die Intentionen seiner Handlungen sind nicht mehr kommunizierbar. Damit wird das Subjekt entweder zum mehr oder weniger zynischen Mitmacher oder aber es wird zum Rebell, der den Systemzusammenhang durch einen anarchischen, selbstzerstörerische Amoklauf zu stören versucht, ohne dass der Sinn dieses Tuns verständlich würde und Konsequenzen über den Augenblick hinaus hätte. Ein Agglomerat aus selbstzerstörerischen solipsistischen Amokläufern ist im Rahmen der Dürrenmattschen Dramaturgie auf der Bühne nicht mehr darstellbar. Bühnendarstellung hat bei Dürrenmatt den Zweck, Handlungszusammenhänge einsehbar zu machen. Das dramaturgische Modell einer Welt muss kohärenter sein als die Welt selbst, nur dann hilft es, die Welt zu bestehen. Bühnefiguren sprechen vor dem Publikum ihre Intentionen aus und jeder Bühnenheld erntet – nach Hegels Worten – die Früchte seiner eigenen Tat. Diese Tat und ihre Folgen muss ihm also zurechenbar sein. Diese Grundregel der dramatischen Darstellung teilt Dürrenmatt noch in den Physikern mit der Dramaturgie des 18. Jahrhunderts – und gerade die funktioniert nun nicht mehr. Damit entzieht sich das darzustellende System der Darstellbarkeit auf der Bühne. Dürrenmatts dramaturgischer Lösungsversuch, durch den strengen Wechsel von Monologen und Interaktionen Durchschaubarkeit herzustellen, weil in den Monologen letzte Reste subjektiver Sinnintention aufscheinen, die anschliessend im Interaktionszusammenhang erbarmungslos frustriert werden, fand beim Publikum kein Verständnis. Das Stück fiel durch. Der Problemzusammenhang wurde nicht erkannt, Kritiker rechneten beispielsweise die penetranten Gemeinplätze, mit welchen die Figuren sich voreinander maskieren, dem Autor Dürrenmatt zu, beschimpfte ihn als „Gemeinplatzwart“ und durchschauten diese Sprache der Figuren nicht als Symptome eines zerstörten Kommunikationssystems. Im Nachwort zum Mitmacher versuchte Dürrenmatt zunächst, seine Absichten zu erklären, auf Hintergründe hinzuweisen, welche das Verständnis der Dramenpartitur ermöglichen würden. Im Nachwort zum Nachwort gibt Dürrenmatt den Versuch auf, sein Drama für die Bühne der siebziger Jahre retten zu wollen, und er wendet sich vielmehr der Aufgabe zu, das Hintergrundproblem, um das es ihm geht, mit andern als bühnentechnischen Mitteln zu fassen. Wir stehen vor der paradoxen Tatsache, dass ein System sich aus den Handlungen der Subjekte konstituiert, denen es umgekehrt die Möglichkeit zum subjektiv sinnvollen Handeln mehr und mehr entzieht. Um diese paradoxe Struktur kommunizierbar zu machen, bezieht Dürrenmatt sich nun auf naturwissenschaftliche Denkmuster, namentlich auf die kinetische Gastheorie, in welcher erstmals die statistische Geltung von Naturgesetzen erkannt wurde. Einzelne Individuen, die sowohl konstitutive Agenten wie abhängige Spielbälle eines Systems sind, verhalten sich wie die Gasmoleküle in einer grossen Menge. Während die Eigenbewegung des Einzelmoleküls chaotisch, zufällig und unprognostizierbar erscheint, lassen sich über die gegenseitig Abhängigkeit von Volumen, Temperatur und Druck einer grossen Menge von Gasmolekülen präzise quantitative voraussagen auf naturgesetzlicher Basis treffen. Gesetzlich geregelt ist also das Verhalten der Grossen Menge, während die Bewegungen des Einzelatoms unberechenbar und zufällig bleiben. Überträgt man, der Metonymie von Atom und Individuum folgend, dieses naturwissenschaftliche Denkmuster auf das Verhältnis von Einzelnem und gesellschaftlichem System, ergeben sich die Konsequenzen, die Dürrenmatt zum Abschied vom Theater zwingen. Die theatralische Darstellung fordert die Beziehbarkeit der Handlung auf die dargestellten Intentionen des einzelnen. Die Übermacht des Gesamtzusammenhangs muss als Plan erscheinen, in dem der einzelne seinen Ort zugewiesen erhält, sei es kraft einer Ironie des Schicksals als tragisches Opfer. Die Emergenz eines nicht geplanten Systems aus den stochastischen Bewegungen der Einzelnen ist nicht Gegenstand einer Dramaturgie diesen Zuschnitts. Damit tritt die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Theorien bei Dürrenmatt in Wechselwirkung mit der literarischen Tradition und mit poetologischen Konzepten und Voraussetzungen seines eigenen Schaffens. Aus der erfahrenen Unmöglichkeit, mit einer Dramaturgie der Personalisierung ein System der Entpersonalisierung im Jahr 1973 auf der Bühne erfolgreich darzustellen, findet Dürrenmatt im Nachwort zum Nachwort einen künstlerischen Ausweg in eine neue Prosaform. In der Erzählung „Das Sterben der Pythia“ unternimmt er den Versuch, den Ödipus-Stoff, den literarischen Schicksalsstoff schlechthin, nach einer neuen, mit Hinblick auf die Thermodynamik der Gase entwickelten Poetologie zu erzählen, indem er überall dort, wo bisher Schicksal gesagt wurde, Zufall einsetzt. Damit erscheint das ganze Geschehen als Emergenz aus den zufälligen, gleichsam lokal motivierten Handlungen der Einzelbeteiligten, nicht als Erfüllung eines schicksalhaften Plans, der sich in tragischer Ironie auch gegen die expliziten Intentionen der einzelnen durchsetzt. Das hat radikale formale Konsequenzen. Jede Person erzählt ihre eigene Variante der Ödipus-Erzählung, alle diese Varianten sind letztlich gleichwertig, jede wird zurückgeführt auf den subjektiven Informationshorizont, das subjektive Sinnbedürfnis und die selbstwerterhaltende Lebenslüge jedes Einzelnen, dessen Wahrheitskonstrukt jedoch durch andere Beteiligte relativiert werden kann. Immer weitere Befragungen und Nachforschungen fördern immer weitere mögliche Wahrheiten zu Tage, kaskadenartig stürzen die einzelnen subjektiven Wahrheitskonstrukte einander nach in die Entgründung, bis schliesslich ein Stopp vereinbart wird: die beiden letzten Zeugen, Tiresias und Panychis, beide desillusioniert, alt und sterbensmüde, handeln untereinander aus, die Sache nun ruhen zu lassen. Die Geburt der Wahrheit aus der Müdigkeit: Nietzscheanischer könnte das Fazit einer langen Erzählung und deren impliziter Wahrheitsbegriff nicht ausfallen. Wie Nietzsche in der Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft“, führt Dürrenmatt in dieser Erzählung die Wahrheit als metaphysischen Begriff zurück auf einen körperlichen Zustand und seine Bedürfnisse. Wahrheit im Singular gibt es nach dieser Erzählung für Dürrenmatt nicht mehr. Perspektivismus und die gegenseitige Relativierung von Perspektiven ist nun durchgehendes Prinzip. Damit kann man Dürrenmatt ab 1976 den Diuskursen des Konstruktivismus zuordnen, doch mit Nuancen. Der Konstruktivismus setzt die „Viabilität“ eines Wirklichkeitskonzepts als Maßstab an die Stelle des Wahrheitsbegriffs: wir lassen einen Konstrukt gelten, solange wir damit leben können. Im Falle der Konkurrenz divergierender Auffassungen führt ein offener Darwinismus zum Überleben des passendesten Konzepts. Damit ist eine evolutionäre Erkenntnistheorie knapp umrissen. Die gilt bei Dürrenmatt natürlich so nicht. Er gibt dem Nietzscheschen Willen zur Macht, dem Darwinistischen „survival of the fittest“ und dem erkenntnistheoretischen Optimismus der evolutionären Erkenntnistheorie eine dramaturgische Drehung zum Endspiel hin. Die letzte Wahrheit ist die, mit der wir sterben wollen, wenn wir mangels Kraft zum Weiterfragen nicht mehr anders können. Station 3: Ist das „Gesetz der grossen Zahl auch ein Naturgesetz des Politischen? In der Mitte der Siebzigerjahre hat Dürrenmatt versucht, das Gesetz der grossen Zahl auch in den Bereich seiner unmittelbar politischen Stellungnahmen zu übertragen. Im Essay „Überlegungen zum Gesetz der grossen Zahl. Ein Versuch über die Zukunft“ will er beweisen, das Anwachsen der Weltbevölkerung werde notwendigerweise zum Primat der Gerechtigkeit über die Freiheit führen: „Das Gesetz der grossen Zahl zwingt allen den Sozialstaat auf.“ Dürrenmatt sucht hier offensichtlich eine politische Orientierung und einen Ausweg aus dem Dilemma der Ideologien. Jenseits von Kapitalismus und Kommunismus sucht er ein Modell, um Entwicklungsgesetze der Politik naturwissenschaftlich zu denken. Damit wählt er ein Denkmuster, das aus dem 18. Jahrhundert stammt. Es war der Französische Revolutionär und Mathematiker Condorcet, ein Programmatiker der Aufklärung, der als erster versuchte, das statistische Denken auf die Politik anzuwenden. Diese Denkweise scheint Dürrenmatt zeitweise eingeleuchtet zu haben – wie viele andere Zukunftsexperten der Siebzigerjahre auch. Doch diese essayistische Berufung auf ein Paradigma der aufklärerischen Politik als Naturwissenschaft wird später in einem literarischen Text sowohl radikalisert als auch kritisch relativiert. Im "Winterkrieg im Tibet", publiziert 1981, ritzt der verstümmelte, in den dunklen Stollen des Bunkerlabyrinths unter dem Himalaja überlebende Söldner folgende Zeilen in die Wand: „Ich kann mir die Gesetze, denen die menschliche Gesellschaft unterworfen ist, nur als Naturgesetze vorstellen. [...] Wenn ich daher im Innern des Himalaja über die Sterne nachdenke, denke ich über die Staaten nach. [...] Ist die Sonne eine Ansammlung von Wasserstoff, ist der Staat eine Ansammlung von Menschen. Beide sind den gleichen Gesetzen unterworfen.“ (S 102f). Dies ist der wohl radikalste Versuch, das Politische im Zeichen des Gesetzes der grossen Zahl zu denken. Der Söldner verneint ausdrücklich die Aussage, es handle sich hier um ein „mystisches Gleichnis“. In der Tat wäre sein Text eher als Allegorese zu bezeichnen, oder als „symbolische Darstellung“ im Sinne Kants. Ich zitiere aus er Kritik der Urteilskraft: „Zwischen einem despotischen Staat und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.“ (KrUrteilkraft A 253. S. 296.) Man braucht nur die Variablen auszutauschen, um die Schreibweise des Dürrenmatschen Söldners zu charakterisieren. Seine Allegorie Stern-Statt wird detailliert ausgesponnen. Schliesslich wird die Geschichte der Schweiz nach dem dritten Weltkrieg erzählt in Analogie zum Gravitationskollaps eines überschweren Sterns. Nach dieser Allegorese des Gesetzes der Grossen Zahl ins Politische folgt jedoch die kritische Einschränkung und die teilweise Selbstzurücknahme Dürrenmatts. Der schreibende Söldner setzt sich unter anderem auch mit der Meinung eines längst vergessenen Schriftsteller auseinander, der in grauer Vorzeit behauptet habe, das Gesetz der grossen Zahl führe notwendigerweise zum Primat der Gerechtigkeit. Diese Meinung wird widerlegt mit zwei Argumenten, mit einem sprachanalytischen und einem existentiellen: A) man könne nicht von wissenschaftliche Seinsaussagen auf Wertaussagen schliessen. B) für ihn, den im Stollen ohne Publikum einsam schreibenden sei es zudem unwichtig, ob er dies gerechterweise oder ungerechterweise tue. Moralbegriffe seinen bloss vorübergehende Schattierungen der Wirklichkeit, ohne objektive Relevanz. Mit dieser Kritik werden tatsächlich voreiligen handlungsorientierende Ableitungen dem Gesetz der grossen Zahl als ideologische Irrläufer entlarvt. Möglich bleibt die literarische Aneignung des Gesetzes der Grossen Zahl als Grundmuster einer apokalyptischen Vision. Station 4: Mondlandung, CERN, Mount Palomar. Auseinandersetzung mit der real existierenden Praxis der Naturwissenschaften Auch wenn Dürrenmatt die - übrigens hinterfragbare – sprachanalytische These akzeptiert, aus Naturgesetzen liesse sich keine Ethik ableiten, aus Seinaussagen keine Sollensätze, verschwindet die Frage nach dem Menschen keineswegs aus dem Blick der Dürrenmattschen Auseinandersetzungen mit naturwissenschaftlichen Denkmustern. Die Frage nach seinem Ort im Kosmos stellt sich vielmehr auf radikalere Art, nämlich in bezug auf seine Funktion als beobachtendes, wahrnehmendes, objektkonstituierendes Subjekt. Dies zeigt sich im Hinblick auf die Auseinadersetzungen Dürrenmatts mit der zeitgenössischen Praxis der Naturwissenschafen und der Technik. Die pointierteste Reaktion auf den modernen Triumph der Technik enthält bereits Dürrenmatts Essay Die Vier Verführungen des Menschen durch den Himmel im Jahr 1969. Auf den Modenflug der Amerikaner und die frenetische Feier dieses Triumphes in den Massenmedien reagiert Dürrenmatt mit dem Bekenntnis: „Am 20. Juli 1969 bin ich wieder ein Ptolemäer geworden.“ Und die Begründung dazu: "Nicht der Mondflug ist das Schlimme, sondern die Illusionen, die er erweckt.[...] Es ist leichter, auf den Mond zu fliegen, als mit anderen Rassen friedlich zusammenzuleben, leichter als eine wirkliche Demokratie und einen wirklichen Sozialismus durchzuführen, leichter, als den Hunger zu besiegen. [...] Der Weltraumflug hat nur dann einen Sinn, wenn wir dadurch die Erde entdecken und damit uns selber.“ Diese „ptolemäische Wende“ Dürrenmatts ist nicht buchstäblich gemeint. Das naturwissenschaftliche Denkmuster wird hier als Metapher verwendet für die Forderung, sich auf soziale und politische Werte zurückzubesinnen. Die Inhalte dieser ethischen Rückbesinnung lassen sich aus dem naturwissenschaftlichen Denkmuster allerdings nicht ableiten, auch nicht aus dessen polemisch provokanter Umstülpung. Zweimal hat Dürrenmatt Begegnungen mit der real existierenden naturwissenschaftlichen Forschung dargestellt. 1975 besuchte er das Centre Européen de Recherche Nucléaire in Genf und berichtet darüber im Mitmacher-Komplex. 1981 besichtigt er die Sternwarte auf Mount Palomar bei San Diego und analysiert diese Erfahrung u. a. in seiner Rede über Kunst und Wissenschaft im Jahr 1984. Beide Begegnungen verlaufen für ihn enttäuschend, ja in gewisser Hinsicht schockierend. Seine Frage an die Kernphysiker, ob die Quarks nicht Fiktionen seien, mit grossem Aufwand an Energie und Geld realisierte Fiktionen, das CERN also ein hochtechnologischee Wirklichkeitslabor, sprich: ein Theater, wird von den Gesprächpartnern nicht geschätzt. Ein Galaxien-Spezialist auf Mount Palomar bezeichnet die radioastronomischen Entdeckungen eines Kollegen voreilig als Zeitungsente und zieht sich auf sein Spezialgebiet zurück, statt Dürrenmatt behilflich zu sein, die neuen Aspekte und Methoden in ein Gesamtbild zu integrieren. Dürrenmatt ist schockiert durch die Naturwissenschaft als Betrieb. Er sieht Menschen, welche hinter ihren Computer-Terminals sitzen, kaugummikauend Comics lesen oder Fingernägel lackieren, während die Experimente laufen. Festzustellen ist zudem die Tatsache, dass das System überhand nimmt, insofern als die moderne Methodologie dazu führt, dass Beobachtung kaum mehr von lebenden Menschen durchgeführt wird. Sie werden weitgehend durch Messapparate oder Fotoplatten ersetzt, Videokameras beobachten den Himmel, die Auswertung wird durch Computer vorgenommen. Das Subjekt als Träger von Beobachtung und als Integrator der Einzelheiten zu einem Ganzen, zu einem „Weltbild“ wird methodisch ausgeklammert oder auf eine Nullstufe reduziert. Die Menschen, die mit modernsten naturwissenschaftlichen Technologien die Natur beobachten, zeigen nicht mehr das Bedürfnis, diese Erkenntnis in einen Weltentwurf zu integrieren. Umgekehrt ist der Entwurf von „Weltbildern, Weltgebäuden, Weltgleichnissen und Weltmodellen geradezu ein Urimpuls des Künstlers Dürrenmatt. Für Dürrenmatt ist Naturerkenntnis, Physik wie Astronomie, Erkenntnis des Weltgebäudes. Bei der Erkenntnis des Sternenhimmels und seiner Genese geht es um die Erkenntnis des Ortes, welchen der Mensch im Kosmos einnimmt. Darüber möchte Dürrenmatt mit den Naturwissenschaftern sprechen. Aus dieser Erwartung heraus ist auch seine Enttäuschung zu verstehen. Station 5: Vom
Beobachten des Beobachters der Beobachter Die radikalste Thematisierung der Beobachter-Problematik unternimmt Dürrenmatt in der späten Erzählung „Der Auftrag“ Ihr Untertitel „Vom Beobachten des Beobachtens der Beobachter“ stellt einen intertextuellen Bezug her zum Werk eines Naturwissenschafters, nämlich zum dritten Kapitel der „Philosophie der Naturwissenschaft“ von Sir Arthur Eddington. Es beginnt mit dem lateinischen Satz: „quis custodet custodes ipsos“. Dürrenmatt kannte und besass dieses Buch, und er hat mehrmals darauf hingewiesen. Eddington ist kein Unbekannter. Als erster gelang es ihm, experimentelle Evidenz herzustellen für eine wichtige Voraussage der Einsteinschen Relativitätstheorie. Er wies nämlich nach, dass das Licht eines Stern tatsächlich abgelenkt wird, wenn es das Gravitationsfeld der Sonne durchquert. Das hätte ihn aber noch nicht zum Vertreter eines methodischen Subjektivismus in der Wissenschaftstheorie gemacht. Erst in der Quantenphysik wurde klar, dass die Art und Weise, wie sich die Natur dem Menschen zeigt, davon abhängt, wie der Mensch die Messbedingungen konstelliert. Je nachdem wie experimentiert wird, erscheint das Licht entweder als Korpuskel oder als Welle. Entweder kennt man den Ort des Lichtkörper oder man kennt den Impuls der Welle, aber nie beides zugleich. Eddingtons Konsequenz ist folgende: Naturphänomene sind durch das beobachtende Subjekt selber konstituiert und es gibt keine Unabhängigkeit des Objekts vom Subjekt. Was macht Dürrenmatt nun literarisch aus dieser Problemstellung? Er erfindet verschiedenen Situationen, in denen Menschen einander beobachten, und er lässt verschiedene Personen darüber nachdenken, wie Menschen darauf reagieren, dass sie beobachtet werden. Diese Phänomenologie muss ich hier aus Zeitgründen überspringen. Auf die Spitze getrieben wird die Literarisierung der Beobachtungsproblematik in der Figur des Kriegsberichterstatters Polyphem. Dieser versucht in Theorie und Praxis eine Position zu verkörpern, die im Licht der naturwissenschaftlichen Beobachtungskonzepte unmöglich erscheint. Polyphem hält seinen Beruf nur für möglich aufgrund der Annahme, dass es so etwas gibt wie ein reines unbeteiligtes Beobachten. Der Kriegberichterstatter kümmert sich nicht darum, ob Das, worüber er berichtet, gut oder böse ist. Nichts, was geschieht hat einen Sinn ausser dem, beobachtet und gefilmt zu werden. An der Stelle ethischer Bewertungen tritt bei Polypoem eine theologische Überhöhungen seiner Position; der Kriegsberichterstatter fühlt sich auf Grund seines Unbeteiligseins gottähnlich und kann sich umgekehrt einen Gott nur insofern als Gott vorstellen, als es diesem gelingt, völlig unbeteiligt zu beobachtet, was in seiner Schöpfung abläuft. Die Unhaltbarkeit der Position Polyphems wird aber nicht nur anhand der ethischen und erkenntnistheoretischen Reflexion gezeigt, sie zeigt sich auch im künstlerischen, handwerklichen. Polyphem gerät aufgrund seiner Position in ein polemisches Verhältnis zu seinem eigenen Medium, indem er sämtliche gedrehte Filme in Einzelbilder zerschneidet und damit versucht die Zeitlichkeit des Ablaufs der Welt aufzuheben in Standbilder, von denen er ein Rettung des Augenblicks vor der Zeit erhofft. Der unbeteiligte Gott kann die zeit nicht akzeptieren, was ihn letztlich als Filmemacher handicapiert, seinen Einzelbildern aber gerade aufgrund der paradoxen Hintergrundproblematik künstlerische Qualitäten verleiht. Doch auch diese Position ist unhaltbar geworden aus einem weiteren Grund: Polyphem weiss nämlich inzwischen, dass er arbeitslos werden wird, denn die Kriegsberichterstattung, für welche er vor Ort verantwortlich ist, wird in Zukunft durch Satelliten erledigt. Er ist nun nicht mehr der gottähnlich unbeteiligte Beobachter, sondern er wird selber beobachtet und zwar nicht von einem subjektiven Beobachter, sondern von einem Computerüberwachungssystem. Nicht er, der unbeteiligte Beobachter, ist gottähnlich, sondern an den Platz des unbeteiligt sehenden Auges Gottes rückt ein apersonales, computergesteuertes Beobachtungssystem. Das ist ein qualitativer Sprung insofern, als die Konstruktion des unbeteiligten Beobachters – ob Gott oder Mensch - immer noch die Konstruktion einer Subjektposition war, während nun das Beobachten und Beobachtetwerden apparativ ablaufen wird. Eine Gegenposition nimmt in der Novelle die Journalistin F.ein. Im Kampf ums nackte Überleben gibt sie jede Distanz auf und wirft sich wie ein verzweifeltes Tier auf ihren übermächtigen Gegner. Sie hat Glück und wird im letzten Augenblick gerettet. Sie ist im Stande, dieses zufällige Glück zu akzeptieren und überlebt, während Polyphem das Scheitern seiner gottähnlichen Unbeteiligtheit nicht überleben will und sich in seinen Bunker zurückzieht, wohl wissend, dass er in den nächsten Minuten durch einen satellitengesteuerten Raketenangriff zerstört wird. Ein Blick auf die Genese des Textes, dessen Vorfassungen im Schweizerischen Literaturarchiv einsehbar sind, zeigt noch einmal, wie der Text mit der literarischen Aneignung naturwissenschaftlicher Denkmuster zusammenhängt. Polyphem heisst in den Vorfassungen Galileo und erklärt seien Spitznamen gleich selber: „Galileo sei der erste gewesen, er durch ein Teleskop geschaut habe und er sei der erste, der durch eine Kamera schaue, vermittels einer Kamera natürlich, die Wirklichkeit bestehe nur insofern sie von einer Kamera beobachtet werde.“ (Entwurf März 1985. S. 65) Die Zerstückelung der Filme wird in dieser frühen Fassung nicht mit der Rettung des Augenblicks vor der Zeit in Zusammenhang gebracht, sondern mit der Konstruktion von Wirklichkeit im Elektronensynchrotron: „jede dieser Einzelaufnahmen stelle gleichsam eine kristallisierte Wirklichkeit dar, wie etwa auch die Fotos von Spuren aufeinanderprallender Materieteilchen in der Blasenkammer eines Zyklotrons [..] Sie befinde sich im innern einer Wirklichkeitslabors.“ (Entwurf März 1985, S. 74) Galileo ist in dieser Vorfassung ein alter Mann, der schon die Bombardierung Dresdens fotografierte. Erst im zweitletzten Arbeitsschub zwischen 17. April 1986 und 4. Juni 1986 wird Galileo verjüngt und mythisiert zugleich: er wird zum Kriegsberichterstatter in Vietnam, das Motiv der Satellitenbeobachtung kommt neu dazu, im Gegenzug wird ihm ein homerischer Intertext gegeben und damit der ein Bezug zum europäischen Kriegsepos par excellence. Wichtig ist auch, dass die Problematik der medialen und massenmedialen Vermittlung von Wirklichkeit nun in den Vordergrund rückt und der Bezug der zerschnittenen Bilder Polyphems zu Blasenkammer der Teilchenphysiker getilgt wird. Dürrenmatt hat sich in der letzten Arbeitsphase von der engen Bindung der Beobachterproblematik an die Naturwissenschaften gelöst und medientheoretische Überlegungen stärker gewichtet. Ohne Zweifel ist dies eine Spur der produktiven Auseinandersetzung mit Charlotte Kerr, welcher die Novelle gewidmet ist. Station 6: Transformative Aneignung. Haller im Diskurszusammenhang des 18. Jahrhunderts und bei Dürrenmatt. Nach diesem Parcours durch einige Brennpunkte Dürrenmattscher Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften möchte ich den Rückweg suchen zum Ausgangspunkt, zu Albrecht von Hallers und zu seinem Auftritt in Dürrenmatts Spätwerk. In diesem Kontext erscheint Hallers Selbstbezug im Sterben erstens als Gegenpol zu der unhaltbaren Selbstkonzeption Polyphems als eines unbeteiligten Beobachters in „Der Auftrag“. Haller erscheint am Ende seines Lebens vielmehr als ein Naturwissenschafter, der sich dem Fluss der Zeit anheimgibt in der Haltung des beteiligten Beobachters. Zweitens stellt der Bezug auf Haller einen Rückgriff dar auf eine diskursgeschichtliche Formation von Naturwissenschaft, bei welcher die Entsubjektivierung der Beobachterposition nicht vorhanden zu sein scheint. Drittens fällt von Hallers naturwissenschaftlich-medizinischer Beobachterhaltung sich selbst gegenüber auch ein Glanz der Naturwissenschaftlichkeit zurück auf das späte Schreiben und Selbstbeobachten Dürrenmatts. Dürrenmatt hat die Selbstdarstellung im Paradigma der Psychoanalyse stets als exhibitionistisch abgelehnt. Im körperorientierten Selbstbezug des Physiologen und Arztes Haller scheint er hingengen eine Haltung zu finden, die ihm eine produktive Antwort ermöglicht auf die poetologische Frage, „ob man selbst ein Stoff zu werden vermag“. Einem diskurshistorisch interessierten Leser stellt sich natürlich die Frage, inwiefern diese dürrenmattspezifische Haller-Konstruktion eine Entsprechung finde in der historischen Position Hallers im 18. Jahrhundert. Hier muss die Antwort bei näherem Zusehen wohl negativ ausfallen. Dies zeigt die Lektüre der Sterbeszene Hallers durch Wolf Lepenies. Lepenies kommentiert in dem für die diskurshistorische Rekonstruktion des 18. Jahrhunderts nach wie vor grundlegenden Buch „Das Ende der Naturgeschichte.“ (S. 35) unter anderem ebenfalls die letzen Worte Hallers. Seine Rekonstruktion unterscheidet sich völlig von Dürrenmatts Lesart. Lepenies beton, das in Hallers Strategien der Selbstvergewisserung stets der Beweis der Funktionstüchtigkeit des Gedächtnisses eine Rolle spiele. Dazu zitiert er eine weitere Andekdote, die indirekt ebenfals auf Wyttenbach zurückgeht: „Einst fiel Haller zu Boden, glaubte, es sei vielleicht eine Art Schlagfluss, und schrieb, um zu sehen, ob sein Gedächtnis gelitten habe, die Namen alle Flüsse auf, welche an der Westküste von Amerika ins Meer fallen“ In diesem Kontext deutet Lepenies nun auch die Sterbeszene. Er schreibt: „Dies ist nichts weniger als ein persönlicher Zug, keine Anekdote, damit ist vielmehr eine Einstellung beschrieben, die sich bis in die Gegenwart wiederfindet und sich immer wiederholt.“ Als Beleg zitiert er mehrere beispiele ähnlichen medi-zynischen Verhaltens von Ärzten zum eigenen Tod und zum Tod naher Angehöriger, und er schließt: diese Beispiele „verkörpern die experimentelle Einstellung, die vor dem eigenen Tod nicht Halt macht.“ In Lepenies Lesart gehört Hallers kalte Selbstdiagnose des eigenen Sterbens zur frühen Vorgeschichte jener Formation eines wissenschaftlichen Beobachtersubjekts, dass sich am Ende selbst auf Nullstufe setzen und ausklammern kann. Hallers Diagnose ist medizinisch, naturwissenschaftlich und damit objektivierend, insofern kalt. Das ist ein völlig andere Neugier als die Neugier, die Dürenmatt für sich und seinen Pulsschlag empfindet und die er Haller nun unterstellt. Dürenmatt diagnostiziert sich nicht physiologisch, wenn er seinen Puls fühlt, sondern er setzt sein Schreiben in einen Körperbezug. Damit beton er die Kreatürlichkeit des Schaffenden und die irreduzible Körperbezogenheit jeglicher Aussagen, nicht zuletzt auch der naturwissenschaftlichen. Von einer Kälte zum Tod kann beim Prosaisten Dürrenmatt eine Rede sein. Vielmehr spricht aus diesen Zeilen eine unpathetische Zärtlichkeit zum eigenen Körper als dem Träger des Denkens und Schreibens. Der Tod nahestehender Personen wird bei Dürrenmatt nicht medi-zynisch abgekühlt, man denke an Dürrenmatts Schilderung des Todes seiner Ehegattin zu Beginn der Stoffe II: „ich berührte sie immer wieder. Sie wurde kälter, doch nie so kalt wie ich mir das vorgestellt hatte. Aber entsetzt war ich nicht. Was sich ereignet hatte, hatte sich zwischen zwei Menschen ereignet.“ (Stoffe, S. 330). Auch ambivalente Gefühle werden benannt, groteske Züge beim Sargtransport kommen vor, führen aber keineswegs zu einer zynischen Abkühlung und zu einem klassifizierenden Blick, wie dieser für die Naturhistoriker des 18. Jahrhunderts typisch wäre. Dürrenmatt beton bei Haller die Befreiung von Angst im Moment des Sterbens. Er weist darauf hin, wie in dieser letzten Selbstbeobachtung alle Schuldgefühle und alle Angst vor einem jüngsten Gericht schwinden, welche Hallers Tagebücher in den letzten Lebensjahren dominierten. Diese Angst vor dem Tod habe bei Haller doch zuletzt einer fundamentaleren Neugier Platz, gestorben sie Haller nicht als verängstigter Christ, sondern als aufklärerischer Selbstbeobachter. Auch bei Dürrenmatts Beschreibung des eigenen Herzinfarkts wird staunend die Abwesenheit von Angst konstatiert. Doch die Methode der Angstbewältigung könnte gegensätzlicher nicht sein. Haller beschreibt seine Todeskrankheit inklusive der daraus resultierenden Opiumabhängigkeit in der Schrift „Über die Wirkung des Opiums auf den menschlichen Körper“ klinisch so genau, dass man heut die ihm damals unmögliche Diagnose ableiten kann: Nierenbeckenentzündung. Hauptperson in Dürrenmatts Selbstbeschreibung seines Herzinfarkts ist dagegen sein Hündchen, eine Papillon, welches sich an den Kranken schmiegt und ihm damit hilft, die Schmerzen auszuhalten. Damit wird eine kreatürliche Körperlichkeit ausgedrückt, die beim Arzt Haller undenkbar wäre. Umgekehrt ist in Dürrenmatts Bild Hallers kein Platz für die Kälte des wissenschaftlich objektivierenden Blicks, den Lepenies aufgrund seiner Kontextualisierung feststellt. Wenn Dürrenmatt Haller zitiert, entstellt er ihn also aus dem Diskurskontext des 18. Jahrhunderts und eignet sich das Bild als Spiegel seiner eigenen Problemlage an. Wenn man dies feststellt, geht es nicht darum, dem Autor Fehler nachzuweisen. Vielmehr geht es darum, durch differentielle Lektüre Dürrenmatts Transponierende Aneignung als solche zu erkennen und damit zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was der Bezug auf Naturwissenschafter und Naturwissenschaft in Dürrenmatt später Prosa bedeutet. Es ergibt sich daraus allerdings eine Mahnung an alle, die Dürrenmatt gerne in die Reihe der Klassiker einordnen möchten, weil er sich öfter auf Klassiker bezieht. Das ist wohl schwieriger, als man denkt. Denn bei genauem Hinsehen schafft Dürrenmatts Bezug auf eine Leitfigur des 18. Jahrhunderts keine bruchlose Kontinuität, vielmehr ist sie charakterisiert durch selektive Rezeption, umdeutende Aneignung und eingreifende Transformation. |